Orgontherapie 2.

Das Gesundheits- und Krankheitsmodell Reichs

"Ich habe in Wirklichkeit nur eine einzige Entdeckung gemacht:
Die lebendige Plasmazuckung."
( Reich, 1954, Interview mit K. Eissler im Auftrag des Sigmund Freud Archivs )

"Die Terminologie der Psychoanalyse ist vorläufig und nur solange gültig, bis sie von der Physiologie ersetzt wird."
( Freud, Brief an Fließ in: Der Ursprung der Psychoanalyse, Imago, 1954)

"Das Gebäude der psychoanalytischen Lehre, das wir aufgebaut haben, ist in Wirklichkeit nur ein Überbau, der irgendwann auf seine organischen Grundlagen zu setzen sein wird; aber diese Grundlage ist uns bisher noch unbekannt."
( Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Psychoanalyse, Studienausgabe Bd.1 Frankfurt/M. 1969 )

Die Grundlagenforschung Wilhelm Reichs zur Psychosomatik und Energetik des menschlichen Organismus fand ihren Ausdruck in dem Begriff der "Biopathie" als Arbeitshypothese zur Erfassung vegetativ - energetischer Faktoren in ihrer Korrelation zur Krankheitsentstehung.

Ausgehend von seinen experimentellen Untersuchungen in den dreissiger und vierziger Jahren dieses Jahrhunderts, einer Zeit, in der die Erforschung der Grundfunktionen des autonomen Nervensystems auf einem nie wieder erreichten Höchststand der Kenntnis von funktionalen Zusammenhängen (und nicht auf morphologisch orientierter Klassifikation, wie seit der Erfindung der Elektronenmikroskopie) angelangt war, definierte Reich die Gesundheit als Fähigkeit eines Lebewesens, in rhythmischer Oszillation zwischen Zuständen des Gerichtetseins auf die umgebende äußere Welt und der Orientierung auf innere Zustände des Organismus hin- und herzuschwingen. Das Erlangen bzw. Bewahren dieser z.B. beim Kinde von jedem menschlichen Beobachter unmittelbar wahrzunehmenden Funktion des Einwirkens und Erforschens der umgebenden Welt und der Integration des Neuerfahrenen, Neuerforschten betrachtete Reich auf allen Ebenen, auf denen sich diese Grundfunktion aller lebendigen, komplexorganisierten Substanz zu erhalten und neu zu strukturieren vermag, als Kennzeichen der seelischen und körperlichen Gesundheit.

"Die Gesundheit eines Menschen ist eben nicht ein Kapital, das man aufzehren kann, sondern sie ist überhaupt nur dort vorhanden, wo sie in jedem Augenblick erzeugt wird. Wird sie nicht erzeugt, dann ist der Mensch bereits krank." ( Viktor v. Weizsäcker, "Soziale Erkrankung, soziale Gesundung", Göttingen 1955 )

Reich definierte damit "Gesundheit" nicht als Abwesenheit von Einschränkungen, Symptomen, Krankheiten des menschlichen oder tierischen Organismus, sondern im Gegensatz dazu als eine Funktion des Wechselspiels, der Wechselwirkung von Subjekt und innerer und äußerer Welt, als ständig sich verändernde Auseinandersetzung des Organismus mit sich selbst und der ihn umgebenden Welt. Wie wenige Psychosomatiker seiner Generation war Reich an der Erforschung der Auf - und Abwärtseffekte in der Entstehung von Krankheit interessiert und betrachtete den Organismus immer als eingebunden in gesellschaftliche, kulturelle und politische Gegebenheiten, Gesundheit und Krankeit als Ausdrucksformen und Wiederspiegelung dieser Einflüsse im Individuum.

Energetische Umwelt
Biologische/physikalische Umwelt
Politische Umwelt
Kulturelle Umwelt
Soziale Umwelt
Familiäre Umwelt
Personale Umwelt
Individuum mit Geschichte, Erfahrung und Verhalten
Gesamtorganismus
Vegetativum
Organsysteme
Organe
Zellen
Moleküle
Atome
Subatomare Partikel
Energiekontinuum

"Erzeugen von Wirklichkeit und Erzeugen von Gesundheit gehen Hand in Hand; Gesundsein vollzieht sich als ständiger Auf- und Umbau der konkreten Beziehungen zwischen Lebewesen und Umgebung, welche die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse ermöglichen. Daher stellt die Summe der geglückten Beziehungen zwischen einem Lebewesen und seiner Umgebung (das heißt der Beziehungen, die Bedürfnisbefriedigung und "Selbstverwirklichung" ermöglichen) eine befriedigende individuelle Wirklichkeit für den Menschen dar.
Auf den kürzesten Nenner gebracht ist also allgemeines Gesundsein das Meistern des Auf- und Umbaus der individuellen Wirklichkeit - allgemeines Kranksein gestörte Wirklichkeitsbildung."
( Thure v. Uexküll, Theorie der Humanmedizin, München 1988 )

Reich bezeichnete diese Oszillation als "Urgegensatz des vegetativen Lebens", mithin als die elementarste Funktion der lebendigen Substanz auf diesem Planeten. Das Studium der polaren Zustände lebendiger Systeme unter dem Gesichtspunkt der Beeinflußbarkeit der Richtung und Amplitude ihrer Oszillation läßt sich als der Forschungsschwerpunkt Reichs in den Jahren 1934 - 1942 formulieren.

Die naturwissenschaftliche Beschreibung des dieser Oszillation zugrundeliegenden Prozesses, der diese Pulsation des Lebendigen hervorbringenden Energie hatte Reich zu einer grundlegend neuen Sicht psychosomatischer, besser: vegetativ - energetischer Prozesse im menschlichen Organismus gebracht. Bis zu seinem Lebensende vertraute Reich zutiefst den Prinzipien der Selbstregulation und Selbstorganisation; ihre Erforschung und Beschreibung ist sein Beitrag zu einer Theorie des Lebendigen.

Reichs Forschungsschwerpunkt aber war die Herausarbeitung derjenigen Einwirkungen, die diese Funktionen einschränken, blockieren ja zerstören können und dies fortwährend tun, notwendigerweise damit die Frage nach einer Umorientierung und Veränderung pädagogischer, medizinischer und sozialer Organisationen.

All diese angeführten Einwirkungen beeinflussen die Pulsation des Organismus und vermögen seine Lebendigkeit einzuschränken, Reich definierte aus diesem Grunde eine Grunderkrankung des Lebendigen, die einmal vorhanden, sich in verschiedensten - aus dieser Sicht - symptomatischen Erkrankungen wie Asthma, Herz- Kreislauferkrankungen, Epilepsie bis hin zu Krebserkrankungen und schizophrener Psychose zu äußern vermag.

Diese Grundstörung nannte er "Biopathie".

"Wichtig ist uns zunächst das Gemeinsame aller dieser Erkrankungen: Es ist eine Störung der natürlichen Pulsationsfunktion des lebenden Gesamtorganismus. (...) Unter Biopathien wollen wir alle Krankheitsprozesse zusammenfassen, die sich am autonomen Lebensapparat abspielen. (...) Nur dort, wo der Krankheitsprozeß mit einer Pulsationsstörung beginnt, wollen wir von "Biopathie" sprechen, gleichgültig, in welches sekundäre Krankheitsbild sie ausläuft. Wir können demnach eine "schizophrene Biopathie" von der "kardiovaskulären Biopathie", diese wieder von der "epileptischen" oder "karzinomatösen Biopathie" etc. unterscheiden.

Dieser Eingriff in die medizinische Terminologie rechtfertigt sich dadurch, daß wir keiner der vielen spezifischen Erkrankungen des autonomen Lebebensapparates beikommen, wenn wir nicht dreierlei tun:

  1. diese Erkrankungen von den typischen Infektions - Krankheiten und chirurgischen Unfalls - Krankheiten abgrenzen;
  2. ihren gemeinsamen Mechanismus, die Störung der biologischen Pulsation, aufsuchen und aufdecken;
  3. ihre Aufsplitterung in die verschiedenartigen Krankheitsbilder begreifen lernen." ( Wilhelm Reich, Der Krebs, Köln 1974 )

Die Pulsationsstörung beginnt nach Reich immer mit einem Überwiegen der Kontraktion, mit einer akut auftretenden Sympathikotonie des vegetativen Systems, einer Erstarrung des energetischen Systems des Organismus. Dieser Zustand geht physiologisch einher mit gesteigerter sympathischer Aktivität, erhöhtem Blutdruck, gesteigerter Herzfrequenz und gesteigertem Stoffwechsel .

Wird diese Kontraktion chronisch, so kommt es zu einer verminderten Reagibilität des autonomen Lebensnervensystems, die im Gefäßsystem, in der Versorgung lebenswichtiger Organe, im endokrinologischen sowie im immunologischen System hinein zunächst funktionelle, später morphologische Veränderungen zeitigen kann.

Das Endstadium einer solchen langanhaltenden chronischen Kontraktion stellt in der Terminologie Reichs die Schrumpfungsbiopathie, d. h. das fast vollständige Erlöschen der Pulsation durch Erschöpfung des sympathischen Systems dar, sie führt in kurzer Zeit zum Tode und spiegelt sich im psychischen System als Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit.

Eine Veranschaulichung der tiefgreifenden Einflüsse des vegetativen Nervensystems auf den Stoffwechsel liefern nachfolgend aufgelistete, unter Sympathikusaktivierung veränderte Parameter:

Sympathikotonie
Zunahme von: Abnahme von:
Adrenalin Alkalireserve
Blutzucker Blutfett
Calcium (Serum) Cholesterin
Chlor (Serum) Eosinophilie
Erythrozyten Insulin
Eiweißkörper Kalium (Serum)
Gesamtstoffwechsel Lymphozyten
Weiterhin Anstieg von:
Kreatin
Leukozyten
Myelozyten
Pulszahl
Reticulozyten
Temperatur

 

Ebenfalls lassen sich tiefgreifende Einflüsse des vegetativen Nervensystems auf die grundlegenden Abwehrvorgänge des menschlichen Organismus nachweisen:

Schema des unspezifischen Abwehrvorgangs (Hoff, Selye)

(1.) Vorphase / Alarmraktion

Parasympathikotonie

Hypokoagulität
Steigerung der Fibrinolyse
Temperaturabfall
Leukozytenabfall

(2.) Phase I / Widerstandsstadium

Sympathikotonie

Hyperkoagulität
Hemmung (oder Steigerung) der Fibrinolyse
Fieberanstieg, Fieberhöhe
Leukozytenanstieg
Abfall der Eosinophilen
Abfall der Lymphozyten
Reticulozytenanstieg
Thrombozytenanstieg

(3.) Phase II

Parasympathikotonie

Normalisierung der Gerinnung
Normalisierung der Fibrinolyse
Fieberabfall
Leukozytenabfall
Anstieg der Eosinophilen
Anstieg der Lymphozyten
Retikulozytenabfall
Thrombozytenabfall

Um die unter dem Begriff der Biopathie subsummierbaren Prozesse und Erkrankungen schärfer einzugrenzen sind die u.a. von dem amerikanischen Internisten Robert Dew entwickelten Kriterien als sinnvoll zu betrachten, die hier modifiziert ind ergänzt genannt werden sollen:

  • Biopathien sind Erkrankungen unbekannter Ätiologie, d.h. nach heutiger medizinischer Kenntnis gibt es keine oder mehrere konkurrierende, einander z.T. widersprechende Erklärungsprinzipien hinsichtlich der Ursache der Erkrankung, wie z. B. bei Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises und der Mehrzahl der Autoimmunkrankheiten.
  • Bei Biopathien entstehen oft funktionelle Symptome/Syndrome zeitlich vor Ausbruch der medizinisch diagnostizierbaren Erkrankung.
  • Biopathien zeigen auch aus traditioneller Sichtweise eine psychosomatische Komponente, die Auftreten, Dauer und Intensität der subjektiven und/oder objektiven Symptome beeinfußt.
  • Biopathien zeigen oft ausgedehnte Zeitspannen von Ausbrüchen und Verschwinden körperlicher Symptome, für die keine offensichtliche oder klinische Erklärung ausreichend ist. Strukturelle Veränderungen zeigen sich in dazu nicht eindeutig korrelierbarer Intensität.
  • Biopathien zeigen ihre Symptomatik im gesamten Organismus wie z.B. Arteriosklerose und Hypertonie. Es ist keine umschriebene anatomische Grundlage als krankheitsverursachend isolierbar, zunehmende morphologische Veränderungen begleiten den Prozeß.

Dew listet den Schweregrad der biopathischen Erkrankung bezogen auf die folgenden verbreiteten Krankheitbilder in der nachstehend angeführten Reihenfolge auf:

Gesundheit
Entzündliche Erkrankungen
Hochdruckbedingte Herz- Kreislauferkrankungen
Diabetes
Leukämie
Krebs

Reich geht mit dem Begriff der "Biopathie" weit über das bedeutende, aber im Allgemeinen verbleibende Streßkonzept der psychosomatischen Medizin hinaus.

"Der Begriff Streß soll keine spezielle Krankheit bezeichnen, sondern ein bei allen spezielle Krankheiten ablaufendes allgemeines (biophysisches) Geschehen, mit anderen Worten etwas, das man als Kranksein überhaupt bezeichnen könnte. Selye (1946), dem wir das Konzept verdanken, schildert die Situation sehr eindrucksvoll, in der er zum ersten Mal die Notwendigkeit einer derartigen Vorstellung erkannte: Als Medizinstudent wunderte er sich, warum seine klinischen Lehrer bei der Vorstellung von Patienten mit verschiedenen Infektionskrankheiten so wenig Wert auf die eindrucksvollen Symptome legten, die zunächst ins Auge sprangen. Sie alle hatten Fieber, litten unter Appetitlosigkeit, allgemeiner Schwäche, Kopfschmerzen usw. Diese eindrucksvollen Symptome wurden aber kaum beachtet. Statt dessen sollten sich die Studenten sehr viel weniger eindrucksvolle Symptome einprägen, mit deren Hilfe es möglich war, spezifische Krankheitszustände voneinander zu unterscheiden. Die Medizin, die gelehrt wurde, war eine Medizin der spezifischen Krankheiten; Dagegen wurde eine Medizin des sehr eindrucksvollen unspezifischen Krankseins vernachlässigt.(...)

Der Begriff Streß bedeutet mehr als keine spezifische Krankheit. Die Ursachen, die das Zustandsbild hervorrufen, sind ebenfalls unspezifisch. Da physikalisch-chemische Noxen, Viren, Bakterien, psychische Konflikte oder soziale Notlagen zu dem gleichen Zustandsbild führen, kann der auslösende Faktor nur etwas sein, das allen diesen spezifischen Krankheitsursachen gemeinsam ist, und das man als unspezifische Schädlichkeit oder als Unzuträglichkeit schlechthin bezeichnen könnte.

Die speziellen Krankheiten: Masern, Scharlach, hoher Blutdruck, Magengeschwür, Depression usw. wären demnach nichts als Varianten oder verschiedene Ausprägungen (eben jenes allgemeinen Krankseins) und die spezifischen Ursachen physikalisch-chemischer, biologischer, psychischer oder sozialer Art nichts anderes als verschiedene Spielarten einer allgemeinen - für sie alle charakteristischen - Unzuträglichkeit."
(v.Uexküll, "Theorie der Humanmedizin", S.32, München 1988)